Schwierigkeiten und Ungereimtheiten innerhalb der Lieferkette können an den unterschiedlichsten Stellen zum Vorschein kommen. Nicht immer sind sie offensichtlich und zeigen sich darin, dass beispielsweise keine Schifffahrtcontainer für die Überfahrt nach Europa zur Verfügung stehen – ein Zustand, den im Laufe der Covid-19 Pandemie viele Unternehmen erlebt haben.

Auch ein etabliertes Supply Chain Management, das den Aufbau und die Verwaltung der Logistikketten, also den Material- und Informationsfluss über den gesamten Wertschöpfungsprozess zur Aufgabe hat, kann Schwächen aufzeigen.

Ein mittelständisches Familienunternehmen, das Produktionsanlagen und Verpackungsmaschinen herstellt, wurde im vergangenen Jahr mit Schwierigkeiten im eigenen Supply Chain Management konfrontiert. Das deutsche Management stellte fest, dass trotz der für die Beschaffungsabteilung festgelegten Systeme und Verfahren die Lagerbestände der indischen Tochtergesellschaft drohten 50 % des Umsatzes zu erreichen. Dies lag 100 % über dem strategisch geplanten Lagerbestand von 25 % des Umsatzes. Noch alarmierender war aber die Tatsache, dass die monatlichen Lagerbestände in den Monaten Mai 2019 – Mai 2020 zwischen 45 % und 60 % schwankten – ebenfalls deutlich über dem strategischen, operativen Ziel.

 

Der erste Schritt: Überblick verschaffen

Um diesen Zustand zu überprüfen und geeignete Maßnahmen zur Optimierung der Supply Chain zu entwickeln, wurde das WB-Team hinzugezogen. In einem gemeinsamen Kickoff-Meeting informierte uns das Management des Unternehmens über die aktuellen Engpässe.

Es gab zu diesem Zeitpunkt zwei grundlegende Probleme: zum einen gab es zu viele ausstehende Aufträge, zum anderen erfolgte die gesamte interne und externe Kommunikation per E-Mail, obwohl die Software Trello Board bereits zur Verfügung stand und von allen involvierten Mitarbeitern genutzt werden sollte. Diese zwei Punkte führten dazu, dass die Beschaffungsabteilung die Lieferanten nicht regelmäßig kontaktierte, um die Lieferung der Materialien nachzufassen. Dies führte wiederum zu zeitkritischen, verzweifelten Anrufen bei den Lieferanten. In anderen Fällen mussten alternative Lieferanten angefragt werden, um die benötigte Menge an Lagerbestand zu beschaffen, sodass die Produktionsanforderungen erfüllt werden können.

Erkenntnisse führen zu weitreichenden Konsequenzen

In der Vorbereitungsphase und in den ersten Tagen im Werk der indischen Tochtergesellschaft stellten wir fest, dass die zuvor gewonnen Erkenntnisse ein hohes Risiko mit sich gebracht haben. Die Ineffizienz des Einkaufsteams und die willkürliche Vorgehensweise der Beschaffungsabteilung führen langfristig zu hohen Lagerkosten und damit zu einer enormen Blockierung des Betriebskapitals.

Ermittelte Schwachstellen:

  • Die Dokumentation der Arbeitsabläufe war verwirrend und nur schwer zu verstehen.
  • Die Teammitglieder hatten nur begrenzten Zugang zu wichtigen SoP-Dokumenten der Abteilung.
  • Einige Dokumente, wie z.B. die schriftlichen Bearbeitungsprozesse, waren nur in deutscher Sprache verfasst.
  • Die Einkaufs- und Lieferdokumentation wiesen zahlreiche Mängel auf.
  • In der Zusammenarbeit mit den einzelnen Teammitgliedern wurde festgestellt, dass selbst bekannte Beschaffungsprozesse grundsätzlich umgangen werden.
  • Die Kompetenz und das Fachwissen einzelner Mitarbeiter wurde in Frage gestellt.
  • Die Teammitglieder verfügten über schlechte zwischenmenschliche und kommunikative Fähigkeiten.
  • Die in der deutschen Zentrale genutzte Software zur Datenvisualisierung wurde nicht mit der in Indien genutzten Software synchronisiert.
  • Die Teammitglieder hatten nur begrenzte Kenntnisse in der Anwendung der Software.
  • Es wurde festgestellt, dass die Teammitglieder nur unvollständige Dateneingaben in der Software und den Systemen vornehmen.
  • Das Einkaufsteam hatte nur eingeschränkte Befugnisse, um Änderungen an dieser Software vorzunehmen.
  • Das interne System zur Leistungsbewertung wurde nicht auf die strategische Ausrichtung des Mutterunternehmens abgestimmt.
  • Es wurde festgestellt, dass es zu einer ineffizienten Lagerung von Teilen kommt und im Lagerbereich keine Ordnung vorzufinden ist.

Wir haben die festgestellten Schwachstellen in 15 Kategorien eingeteilt, die sofortige Aufmerksamkeit erforderten. Außerdem haben wir die jeweiligen Auswirkungen der einzelnen Kategorien auf die Lagerbestände definiert. Wir haben einen systematischen Ansatz vorgeschlagen, um alle Engpässe mit einem jeweiligen Aktionsplan zu beseitigen. Das deutsche Management hat gemeinsam mit dem Team der indischen Tochtergesellschaft beschlossen, dass wir als WB-Team die Maßnahmen für drei Kategorien ausarbeiten und umsetzen.

Die Mitarbeiter stehen im Fokus

Um das Projektziel zu erreichen und die drei Kategorien nachhaltig effizienter zu machen, wurden wir mit folgenden Aufgaben betraut:

  • Entwicklung einer Methodik zur Klassifizierung der Bestände.
  • Definition von Prozessen zur Festlegung der Meldebestände und der Mindestbestellmengen anhand eines einfach Flussdiagramms.
  • Betreuung und Leistungsüberprüfung des Teams der Einkaufsabteilung innerhalb eines festgelegten Zeitraums.

Dabei ging es um die Überprüfung der Prozessdokumente der Abteilungen Beschaffung, Lager, Qualitätskontrolle und Produktion, die mit der Bestandsverwaltung in Zusammenhang stehen. Der Zweck bestand darin, die Lücken in den Arbeitsabläufen im Vergleich zu den einzuhaltenden Standards zu ermitteln.

Überprüfung der vom Team im Bestandsplanungsprozess verwendeten Instrumente.

Bewertung der Qualität der Beschaffungsplanung und der Datengenauigkeit im internen System.

 

Bewertung der Effizienz:

  • Organisationsstruktur und Verwaltung des Beschaffungsteams.
  • Lieferantenauswahlverfahren und dazugehörige Dokumente, Lieferantenaudits usw.
  • Beschaffungsteam bei der Bearbeitung von Qualitätsreklamationen durch den Einsatz von Kommunikationsmitteln und Lieferanten-unterstützung.
  • Problemlösungskompetenz des Beschaffungsteams in Bezug auf Lieferverzögerungen, Kosten, Nachverfolgung usw.
  • Entwicklung neuer Lieferantenbeziehungen.

Bewertung der Wirksamkeit:

  • Vermittlung der Wichtigkeit von milk runs und regelmäßigen Käufen bei den Lieferanten.
  • Beurteilung der Lieferanten durch das Beschaffungsteam und die Fähigkeit, die Mängel im Voraus zu erkennen.
  • Coaching des Beschaffungsteams, sodass mögliche Mängel künftig erkannt und verringert werden.

Aufbau einer starken Kundenbeziehungen

Wie in allen Projekten sind wir auch hier nicht als externe Berater plötzlich aufgetaucht, haben ein Chaos im Unternehmen verursacht, ein paar kluge Ratschläge gegeben und sind dann wieder von der Bildfläche verschwunden. Wir sehen uns immer als Teil des Teams und tauchen in das Unternehmen ein.

Die Zusammenarbeit begann mit einem Besuch vor Ort im Bundesstaat Tamil Nadu und der Begutachtung der einzelnen Abteilungen, die mit der Beschaffungstätigkeit zusammenhängen. Dazu gehört das Lager, die Qualitätskontrolle und die Produktion der indischen Tochtergesellschaft. Wir haben Einzelgespräche mit jedem Mitarbeiter des Beschaffungsteams geführt, um das Kompetenz-niveau, die Kenntnisse der Prozesse, das Verständnis ihrer Rollen und Verantwortlichkeiten, aber auch die Engpässe, mit denen sie konfrontiert waren, zu ermitteln.

Gleichzeitig haben wir alle Prozess- und Workflow-Dokumente der relevanten Abteilungen überprüft. Wir haben Daten aus den internen Systemen gesammelt, die für die Materialklassifizierung auf Grundlage objektiver und subjektiver Parameter erforderlich sind. Im Anschluss erfolgte eine Analyse der gesammelten Daten und die Bereitstellung eines Klassifizierungsmodells und einer Methodik für die praktische Umsetzung des Modells im täglichen Beschaffungsprozess.

Handfeste Lösung statt Hochglanzkonzept

Wir versprechen grundsätzlich weder Hochglanz-konzepte, noch zwingen wir die eine, mutmaßlich richtige Lösung auf. Wie in diesem Projekt ist es häufig nötig, mehrere Ansätze gleichzeitig zu verfolgen, um eine zeitnahe Lösung zu schaffen, aber das Unternehmen damit auch langfristig zu stärken.

Gemeinsam mit dem Kunden sind wir in diesem Fall zu dem Entschluss gekommen, dass ein Einzelcoaching der Teams sinnvoll wäre, um vorübergehend und zeitnah eine Besserung der internen Zustände zu erreichen. Um die Schwachstellen grundsätzlich zu beheben und die strategischen Ziele nachhaltig zu erfüllen, muss das Unternehmen einen dreigleisigen Ansatz auf strategischer, taktischer und operativer Ebene verfolgen.

Dieser umfasst die Neudefinition der Standardvorgehensweise, die Umstrukturierung und systematische Schulung der Mitarbeiter der Beschaffungsabteilung sowie die Neudefinition der Leistungsindikatoren zur Messung der Leistung und der Kompetenz des Teams. Ein komplexer Prozess, der dem Unternehmen bevorsteht, aber die Supply Chain dauerhaft stärken wird.