Ganz nebenbei lässt Manojit Acharya eine Bemerkung fallen, die man so in Deutschland aktuell niemals hören würde. „In meiner Arbeitszeit werde ich das Ende des Wachstums nicht mehr erleben“, sagt der indische Managing Director des Gabelstaplerproduzenten Jungheinrich. Seit 2015 baut der 53-Jährige für das Hamburger Traditionsunternehmen in Mumbai das Business auf. Wie deutsche Firmen ticken, wusste der Ingenieur gut. Zuvor hatte er bereits gut 16 Jahre für die Demag im benachbarten Pune gearbeitet. Acharyas Erfolgsbilanz lässt sich sehen. 2023 ist die Indien-Tochter zum vierten Mal umgezogen, vergrößerte ihren Standort mit Lager, Werkstätte und Verwaltung von anfangs 450 sukzessive auf jetzt 7000 Quadratmeter. Zwischen 2014 und 2023 wuchs der Umsatz um das Achtfache. „Solch eine Dynamik haben wir weltweit noch nirgendwo erreicht“, schwärmte Jungheinrichs Vertriebsvorstand Christian Erlach beim letztjährigen Logistik-Kongress in Berlin. Bei seinem Besuch in Mumbai habe er eine positive Energie im Raum gespürt, wie er sie noch nie erlebt habe.  

Im Asien-Pazifik-Raum glänzt Indien mit besten Bewertungen

Indien punktet und sorgt für so viele Schlagzeilen wie lange nicht. „This is India’s Moment”, ist Premierminister Narendra Modi überzeugt. „Wird Indien das neue China?“, fragen sich die Medien, seitdem Indien China als bevölkerungsreichstes Land der Erde abgelöst hat. 44 Prozent der Inder seien jünger als 25 Jahre, betont Dirk Matter, Geschäftsführer der Deutsch-Indischen Handelskammer in Düsseldorf. Dieses riesige Arbeitskräftepotenzial sei jedoch Fluch und Segen zugleich. Denn Premier Modi müsse pro Monat 1,4 Millionen junge Schul- und Hochschulabgänger auf dem Arbeitsmarkt unterbringen. Gelingt das auf Dauer nicht, könnte das den sozialen Frieden bedrohen. Doch erst einmal fiel die Nachricht vom Bevölkerungsrekord in eine für das Land gute Zeit. Mit stabilen Wachstumsraten von um die sieben Prozent kann keine andere große Wirtschaftsnation glänzen. Die fünftgrößte Volkswirtschaft, die 2023 erstmals den G20-Gipfel ausrichtete, wusste das Treffen gut zu nutzen, um den Standort – noch dazu im Vorfeld der Parlamentswahlen 2024 – in Szene zu setzen. Mit Deutschland, seinem wichtigsten Handelspartner in der EU, vermeldete Indien einen Rekord beim Austausch von Waren (2022: 31,4 Milliarden US-Dollar). Auch beim im November 2023 präsentierten World Business Outlook der Deutschen Handelskammern erreichte der Subkontinent im Vergleich mit allen Ländern im Asien-Pazifik-Raum die besten Bewertungen bei der aktuellen Geschäftslage, den Geschäftserwartungen sowie Investitions- und Geschäftsabsichten. Am stärksten investieren die Deutschen derzeit in die Produktion (60 Prozent), Vertrieb und Vermarktung (40 Prozent) sowie Forschung und Entwicklung (35 Prozent). 

Kluge Strategien gefragt trotz guter Rahmenbedingungen

Ein Selbstläufer ist der Erfolg für deutsche Unternehmen vor Ort trotzdem nicht, selbst wenn sie wie Jungheinrich von für das Unternehmen günstigen Gesetzen profitieren, etwa von der Goods and Services Tax (GST), die eine Vielzahl verschiedener Steuern ersetzte und damit einen einheitlichen Binnenmarkt, einfachere Steuererklärungen und transparentere Geschäfte ermöglichte. Nach Wegfall der Zölle an den Grenzen der Bundesstaaten ersetzte die verladende Wirtschaft viele kleine Läger durch sehr große. Und da waren Gabelstapler gefragt. „Um die Käufer an uns zu binden, haben wir ein sehr enges Netz an Standorten für den Kundendienst in allen Wirtschaftsmetropolen geknüpft“, erklärt Acharya. Zudem startete er u.a. den Verkauf von Regalen. „So bieten wir dem Kunden alles aus einer Hand an.“ 

Typisch deutscher Indien-Aufstieg

Während Jungheinrich alle Fahrzeuge aus internationalen Werken, überwiegend aus China, nach Indien importiert, ging die Boellhoff Fastenings Pvt Ltd, Tochter des Bielefelder Spezialisten für Verbindungselemente, Montagetechnik und Verarbeitungssysteme, einen Schritt weiter – und vollzog einen für deutsche Unternehmen typischen Indien-Aufstieg: langsam und bedächtig. 2007 mit einem reinen Vertrieb gestartet, um die Akzeptanz der Produkte vor Ort zu testen, startete das 1877 gegründete Familienunternehmen mit heute mehr als 3300 Beschäftigten und 783 Millionen Euro Umsatz (2022) später eine kleine Produktion, bevor die Indien-Tochter 2019 in Gurugram im Großraum Delhi eine größere Fabrik eröffnete. Auf vier Etagen arbeiten heute 80 Beschäftigte in der Verwaltung, der Produktion und im Lager. Im „Klassenraum“, so heißt der große Schulungsraum, drücken alte und neue Mitarbeitende regelmäßig die Schulbank, um die hohen Qualitätsansprüche der deutschen Unternehmensmutter zu erfüllen. Das hat sich ausgezahlt. „90 Prozent der indischen Autos etwa nutzen in der Produktion Verbindungstechnik von Böllhoff“, sagt Managing Director Shiv Kumar. Zuletzt erzielte die indische Tochter einen Umsatz von umgerechnet 8,3 Millionen Euro, 36 Prozent mehr als im Jahr 2022. Noch kann das Unternehmen auf bestehender Fläche expandieren. Braucht es mehr Raum, bieten die Industriegebiete rund um die Hauptstadt ausreichend Möglichkeiten. „2025 werden wir gegebenenfalls eine weitere Fabrik in Gurugram bauen“, so Kumar.  

Hilfe von externen Experten ist unerlässlich

Trotz zahlreicher Fortschritte, insbesondere bei der Digitalisierung von Zahlungsvorgängen und Geschäftsabläufen, etwa der Abgabe von Steuererklärungen, gilt Indien nach wie als schwierig, kompliziert und bürokratisch. Wie viele deutsche Unternehmen holt sich deshalb auch Boellhoff Hilfe von außen. Wamser + Batra unterstützte die Westfalen bei der Suche nach einem indischen Geschäftsführer, optimierte alle Verträge, erbringt administrative Arbeiten, baute eine eigene Verwaltung und begleitet Corporate Compliance Themen. Wie Boellhoff bietet die bayerische SFC Energy AG ihre Wasserstoff- und Methanol-Brennstoffzellen für stationäre und mobile Hybrid-Stromversorgungslösungen über indische 

Vertriebspartner den indischen Kunden an. „Künftig werden wir allerdings auch vor Ort produzieren und einen großen Teil der Vorprodukte lokal einkaufen“, sagt der General Manager für Indien, Thomas Martensmeier. Er folgt damit einer Vorgabe der indischen Regierung, die die Vergabe von staatlichen Aufträgen im Rahmen ihres Make-in-India-Programms verstärkt an die Produktion vor Ort knüpft. Trotz jahrelanger Indien-Expertise sind jetzt so manche bürokratischen Hürden zu nehmen. Um die Energie und Management-Kapazitäten auf das eigentliche Geschäft zu fokussieren, hat SFC in Indien von Anfang an lokale Dienstleister gesetzt. Ein Personalberater kümmert sich um die Rekrutierung von qualifiziertem Personal, ein anderer Dienstleister um Steuern und die Buchhaltung. „Ohne Consultants würden wir viel zu viel Zeit verlieren“, sagt Martensmeier. 

Ausreichend Platz für Expansion

Auch wenn der indische Markt nicht einfach ist, bauen die deutschen Unternehmen laut Stefan Halusa, ihr Engagement kräftig aus. „Vor allem das robuste Wirtschaftswachstum und die hohen staatlichen Investitionen in die physische und digitale Infrastruktur stimmen die Firmen optimistisch“, sagt der Geschäftsführer der Indo German Chamber of Commerce. Davon profitieren nicht nur deutsche Konzerne wie Airbus und Siemens Mobility, die 2023 Milliarden-Aufträge für Flugzeuge und Loks erhielten. Auch beim deutschen Mittelstand stehen die Zeichen auf Expansion. Und wie Boellhoffs Indien-Chef Kumar haben die Geschäftsführer klug vorgebaut. Im Osten Mumbais, der zweitgrößten Megacity des Landes, etwa sitzt die Fabrik des Hamburger Klimaanlagenspezialisten Stulz. Von seinem Arbeitszimmer hat Geschäftsführer Suresh Balakrishnan einen unverbaubaren Blick auf eine große Brache. Schon bald werden die Bagger anrücken. Für 15 Millionen Euro lässt Balakrishnan eine fünfte Fabrikhalle bauen, wird so die Kapazität verdoppeln und die Zahl der Beschäftigten von 800 auf 1000 erhöhen. Dass noch viel Luft nach oben ist, glaubt auch Oliver Mirza, Geschäftsführer der Dr. Oetker India Pvt. Ltd. 2008 hat er für den Bielefelder Nahrungsmittelkonzern die indische Tochter gegründet und zum drittgrößten Werk im internationalen Oetker-Verbund gemacht. In der Region Asien, Australien, Afrika glänzt Indien mit dem höchsten Umsatz, überholte jüngst Australien „Von zuletzt 35.000 Tonnen jährlich könnte die Produktion auf dem Grundstück noch bis auf 200.000 Tonnen hochgefahren werden. Wir können die Nachtschicht einführen, neue Maschinen anschaffen und Platz für neue Hallen ist auch noch da.“  

Neue Herausforderungen und Chancen

Wer in Indien erfolgreich sein will, braucht Geduld, viel Geduld. Trotz des riesigen Angebots an Arbeitskräften ist es nicht einfach, qualifizierte Beschäftigte zu finden und dann vor allem auch zu halten. Denn Inder wechseln schnell den Job, wenn anderswo mehr Geld oder Vorteile locken. „Für manche Positionen ist es schwieriger geworden, die richtigen Leute zu finden. Das braucht Zeit“, beobachtet Kumar von Boellhoff. Auch den stark hindunationalistischen Kurs der Regierung in dem Land mit der laut Wikipedia weltweit drittgrößten muslimischen Bevölkerung sehen viele Unternehmer mit Sorgen. In ihren mit vielen Religionen besetzten Belegschaften spielt für sie die Qualifikation, nicht die Religion die entscheidende Rolle. Auf der Wunschliste deutscher Investoren steht seit Jahren ein Freihandelsabkommen. In einer Umfrage der AHK Indien mit der AHK Singapur hätten 90 Prozent der Unternehmen gesagt, dass ein Freihandels- und Investitionsschutzabkommen zwischen der EU und Indien wichtig bis sehr wichtig für ihr Geschäft sei, betont Halusa, der allerdings vor der Wahl im Mai 2024 mit keinen Fortschritten mehr rechnet. Last but not least bringen neue Gesetze neue Probleme. „Es gibt immer noch große Teile der indischen Industrie, die das Thema Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz gar nicht auf dem Monitor haben“, sagt Halusa. Die AHK habe viele Veranstaltungen dazu gemacht, u.a. mit den Konsulaten, der Botschaft, mit indischen Kammern und Verbänden. Letztlich werde das Gesetz aber auch weiterhin als Handelsbeschränkung wahrgenommen und so interpretiert, dass Europa Produktion zurückholen will. Trotz aller Herausforderungen punktet die drittgrößte Volkswirtschaft Asiens mit einem unschlagbaren Vorteil: Jungheinrich-Vorstand Erlach: „Es gibt keinen Grund, sich aus China zurückzuziehen, aber Indien lockt mit riesigem Marktpotenzial. Dazu trägt auch das starke Bevölkerungswachstum bei.“  

 

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Der Artikel wurde von Frau Eli Hamacher im Auftrag von WB erstellt. Ausgangspunkt des Artikels ist eine Recherche-Reise nach Indien zur aktuellen Wirtschaftslage aus der Sicht von dt. Firmen vor Ort.